16
Darf ich vorstellen? Meine Familie!

»Die zehn Gebote war der erste Horrorfilm, den ich je gesehen habe«, erzählt Mickey Hamilton mir, während er auf seiner Seite der großen Matratze liegt, die ich einst mit Teddy geteilt habe. Wir unterhalten uns über unsere Kindheitstraumata. Meines bestand darin, von einem Hund gebissen zu werden. Von einem Boxer, um genau zu sein, im Alter von sieben Jahren.

Ham hatte als Kind einen Boxer namens Duke. Das sei ein lieber Boxer gewesen, erzählt er mir. Sie nannten ihn Dukey. Dukey hatte Zähne wie die Wachsmasken, die wir immer an Halloween trugen, und den muskelbepackten Körper eines Diskuswerfers. Doch er hat nie jemanden gebissen. Nicht wie der Hund im SaveWay, der Mickey ins Bein gebissen hat. Dukey hat einfach nur aufs Haus aufgepasst, wie ein Teddybär mit einer Gruselmaske.

»Ich würde Die zehn Gebote nicht gerade einen Horrorfilm nennen«, sage ich zu meinem neuen Liebhaber und rolle mich auf die Seite, um ihn anzusehen. »Moses ist ja nicht gerade Chucky, die Mörderpuppe.«

Er küsst mich, genau wie er es in den vergangenen zwei Wochen immer wieder getan hat: fest und lang, und gleichzeitig weich und verträumt. Diese Art Ehebruch gefällt mir sehr.

»Meine Mutter hat diesen Film geliebt«, seufzt Mickey. Von Nahem betrachtet ist sein Gesicht nett. In diesen ersten Tagen unserer Beziehung habe ich dem andauernden Drang widerstanden, seinen Koteletten mit dem Rasierapparat zu Leibe zu rücken, während er schlief.

»Sie hat ihn im Laden eines fanatischen Wiedergeborenen gefunden. Damit hat sie meine Kindheit ruiniert.«

»Hast du etwas gegen Religion?« Ich lasse eine Hand über seine Brust gleiten. »Und was, wenn Helen dich mit in die Messe nehmen will?«

Mickey grinst und streichelt mein Gesicht. »Ich sehe deine Mutter nur noch selten im Geschäft. Wie es scheint, siehst du sie auch nicht öfter.«

»Doch, ich sehe sie«, sage ich. »Wir haben meinen Vater eben zu seiner ersten Bestrahlung gebracht.«

»Ja, aber du gehst nicht ans Telefon, wenn sie mit deinem Anrufbeantworter plaudert.«

Ich rücke von ihm ab. »Das Ganze ist komplizierter, als du denkst.«

Mickey lässt das Thema auf sich beruhen. Ich bin froh darüber. »Es ist auch nicht der religiöse Aspekt des Films, der mich stört«, sagt er und kommt damit wieder auf Die zehn Gebote zu sprechen. »Sondern die Szene, wo sie die Arme und Beine eines Mannes an vier Pferden festbinden, die in entgegengesetzte Richtungen gehen sollen. Dann lässt jemand eine Peitsche knallen, und obwohl man nicht sieht, wie der Mann gevierteilt wird, hört man doch diesen ohrenbetäubenden Schrei. Aaaaaagh!« Mickeys Arme rudern über den Betttüchern hin und her, als er es für mich nachspielt.

Ich bin überrascht, wie empfindlich er auf diese Szene reagiert. Wenn ich an die zerlegten und abgepackten Hühnchen denke, an denen ich jeden Tag im SaveWay vorbeikomme, frage ich mich, wie er jemals als Metzger arbeiten konnte.

Ich habe ihm noch nicht gesagt, dass Helen meine Großmutter ist. Mein Gefühl sagt mir, dass das ein schlechter Anfang für eine Beziehung wäre. Es gibt noch viel, das ich nicht über Mickey Hamilton weiß, aber noch mehr, was er nicht über mich weiß. Aber er ist nett und geduldig, und es scheint ihm nichts auszumachen, dass ich wenig mit ihm teile außer Sex. Manchmal, wenn ich in seinen Armen liege, stelle ich mir vor, ich wäre Inga, die eine aufregende außereheliche Affäre mit jemandem hat, jemandem wie … Teddy.

Mickey legt einen starken Arm um mich und zieht mich an sich. Er betrachtet mich aus seinen grauen Augen, die ich früher einmal langweilig fand. Nette Augenbrauen, buschig wie Zeigefinger, ziehen sich vor Konzentration oder vielleicht auch vor Begierde zusammen. Ich komme mir nicht das kleinste bisschen fett vor. Ich beuge mich vor und küsse ihn fest auf den Mund. Seine Hand gleitet unter die Decke und findet dort etwas Nettes.

Dann hören wir ein Klopfen an der Tür.

Ich werfe einen Blick auf den Wecker, der 8 Uhr 59 anzeigt.

Sie konnte nicht mal bis neun Uhr warten.

»Wer ist das?«, fragt Mickey, zieht die Hände zurück und starrt auf die Schlafzimmertür.

»Ich weiß nicht«, lüge ich.

Er setzt sich auf, und seine glatten, muskulösen Schultern ragen aus der Decke. Sein Anblick in der Morgensonne, so groß und stark, macht mich immer noch leicht nervös. Ich bin daran gewöhnt, es körperlich mit dem Mann aufnehmen zu können, der neben mir im Bett sitzt.

Das Klopfen geht weiter. Ich hasse den blöden Rhythmus, in dem sie an die Tür trommelt. Dadadamdam-damdam! So klopft eine Großmutter, keine Mutter. Allein an ihrem Klopfen in all den Jahren hätte ich erkennen müssen, dass sie nicht meine Mutter sein konnte. Mickey springt aus dem Bett und geht in Richtung Badezimmer.

»Willst du nicht antworten?«, fragt er.

Unsere Beziehung ist noch zu frisch, um ihm zu erzählen, wie ich am liebsten darauf reagieren würde. Ich würde am liebsten nackt wie ein Pin-up-Girl die Tür aufreißen und der Person auf der anderen Seite befehlen, zu verschwinden. Raus aus dieser Wohnanlage! Runter von diesem Grundstück! Ich würde dieser Person, die sich schamlos als meine Mutter bezeichnet hat und sich nun weigert, mir alles über meine wahren Eltern zu erzählen, am liebsten sagen, dass sie sich ein anderes Projekt suchen soll. Lass mich allein. Such dir einen eigenen Freund.

Stattdessen hülle ich mich in den Bademantel und gehe zur Tür. Ich starre sie wütend durch den Türspion an, in dem ihr Kopf größer und ihr Körper winzig aussieht. Ihre Augen treten verzerrt hervor, wie bei einem Insekt unter dem Mikroskop.

»Was willst du?«, schreie ich durch die Tür. Vielleicht ist es gar kein Schreien. Vielleicht schreie ich nur innerlich. Doch die Frage ist feindselig genug, und ich sehe, wie sie ein Stück zurückweicht und an etwas nestelt, das unter ihrem Arm klemmt – unter dem, der nicht die große Tasche hält. Es sieht aus wie ein Fotoalbum.

Ich bin nur froh, dass es kein Gedichtband ist. Nie wieder werde ich eine Frau mit einem Gedichtband in meine Wohnung lassen. Das große Insektengesicht sieht zu mir auf, traurig und ein bisschen verzweifelt. Bevor ich nachdenken kann, entriegele ich die Tür und mache auf.

»Komm rein, Ma … Helen, meine ich«, sage ich.

Helen tritt in ihrem beigefarbenen Mantel ein. In perfekter Symmetrie kommt Mickey ins Wohnzimmer, ein malvenfarbenes Handtuch um die Hüften geschlungen. Er schenkt Helen ein Lächeln, als wäre sie eine zornige Kundin, die Ersatz für eine Tomatenkonserve will, nur weil sie ein klein wenig verbeult ist.

Helens Blick wandert von Mickeys Handtuch zu mir und zurück zu Mickey.

»Hi, Ham«, sagt sie. »Es wurde auch Zeit, dass Sie hier auftauchen.«

»Hallo, Mrs Pulkowski«, sagt Mickey. »Ich wollte gerade aufbrechen, aber es freut mich, Sie zu sehen.«

»Das denke ich mir«, sinniert Helen und starrt dreist auf Mickeys Körper. Er gibt mir einen Klaps auf den Po, als er aus dem Zimmer geht, dann lacht er kurz auf, ein leises Kichern, und das klingt so entspannt und enthemmt, dass ich für eine Sekunde glaube, mich in eine Episode von Twilight Zone verirrt zu haben.

»Dann ist mein Timing ja perfekt«, ruft Helen ihm hinterher. »Rosie und ich haben einiges zu bereden.«

»Na, dann besser gleich als nie«, erwidert Mickey, bleibt dann in der Schlafzimmertür stehen und dreht sich um. Er scheint es zu genießen, sein malvenfarbenes Handtuch vorzuführen. »Rosie glaubt, dass es ihr größtes Trauma war, von einem Hund gebissen zu werden.« Er schenkt mir einen durchdringenden Blick, der direkt einer Seifenoper zu entstammen scheint. »Aber ich glaube, dass da noch etwas sein könnte.«

»Stimmt«, sagt meine Quasi-Mutter. »Bei Rosie ist immer noch etwas.«

Ich plumpse auf das Sofa, das zufällig zu Mickeys Handtuch passt. »Vielleicht solltest du nach Hause gehen und dir Die zehn Gebote ansehen«, fauche ich Mickey an. »Dann hast du eine ungefähre Vorstellung davon, was ich später mit dir tun möchte.«

»Rosie!«, sagt Helen.

»Keine Sorge«, sage ich ihr. »Es ist jugendfrei.«

»Mach mir einen Tee, Rosie, und dann zieh dich an«, sagt Helen. »Ich muss dir etwas zeigen.«

Im Schlafzimmer sitzt Mickey auf dem Bett und schlüpft unschuldig in eine Socke. Er umarmt mich, als ich auf dem Weg unter die Dusche bin, dann kleidet er sich in aller Ruhe fertig an.

»Reservieren Sie mir den besten Schweinebraten!«, höre ich Helen rufen, als er aufbricht. »Ich komme später vorbei, um ihn abzuholen.«

»Wollen Sie einen mit Knochen, Mrs P.?«

Die Antwort höre ich nicht.

Ich ziehe mich an und treffe am Esstisch auf Helen. Sie hat den Tee für uns selbst gemacht und dazu ein Porzellanservice benutzt, das ein Hochzeitsgeschenk war. Teddy hat es immer gehasst. Er verabscheute das zarte, ländliche Motiv und den Goldrand. Während der Flitterwochen hatte er sich stattdessen eine männlich aussehende italienische Espressomaschine gekauft, etwas Geometrisches in kräftigem Rot.

»Ich habe deinen missratenen Ehemann diese Woche auf der Post getroffen«, sagt Helen, schenkt Tee ein und liest meine Gedanken. »Die ist genau neben der Praxis für Daddys Strahlenbehandlung, weißt du. Auf dem Jericho Turn-pike.«

»Wie geht es Dad?«

»Gut.«

»War Teddy zusammen mit Inga da?«, kann ich nicht umhin zu fragen.

»Nein.« Sie tätschelt mir freundlich die Wange. »Warum interessiert dich das? Du hast doch jetzt einen netten Mann. Trink deinen Tee.«

»Ma, ich finde, du solltest Mickey nicht bitten, dir einen Schweinebraten zurückzulegen. Er ist doch nicht mehr Metzger. Er ist jetzt Geschäftsführer.«

»Oh, Ham macht das nichts aus.«

Sie schiebt mir eine Tasse mit Unterteller hin, dann schlägt sie das schwarze Album auf, das neben ihrem Tee auf dem Tisch liegt. Vor Aufregung läuft mir ein Schauer über den Rücken. Das also ist es.

»Ich kann es dir nicht verübeln, dass du mir in letzter Zeit aus dem Weg gegangen bist«, sagt sie und blickt versonnen auf die Sammlung von Schwarz-Weiß-Fotos, die von kleinen schwarzen Fotoecken gehalten werden. Das ist ein Album, das ich nie zuvor gesehen habe. Helen seufzt und blättert eine Seite um, dann blättert sie zurück an den Anfang. »Mir ist klar geworden, dass das keine ganz unwichtige Neuigkeit war, die ich dir da mitgeteilt habe«, fährt sie fort. »Über deine Mutter. Und mich. Und deinen Vater.«

Etwas regt sich zwischen meinen Rippen, ein kleines pelziges Tierchen. »Du hast mir noch gar nichts über meinen Vater erzählt.«

»Ich meinte Pulkowski. Also eher deinen Großvater. Wenn man es genau nimmt.«

Sie knetet ihre Hände, roter Nagellack blitzt auf und verschwindet wieder. Einen kurzen Moment lang kann ich nachfühlen, was in der zierlichen Frau vorgeht, die mir gegenübersitzt.

»Er sah schrecklich aus«, sagt Helen.

»Wer?«

»Teddy.«

Natürlich. Sie würde nie behaupten, Pulkowski sähe schrecklich aus.

»Sein Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab, und ein Hemdzipfel hing ihm aus der Jeans …«

»Also, Ma«, versuche ich es wieder, zum hundertsten Mal seit zwei Wochen. »Wer ist mein Vater?«

»Mein Pulkowski war deinem Ham sehr ähnlich, als er jung war«, sagt sie und überhört meine Frage.

»Er ist nicht mein Ham.«

»Wessen Ham ist er denn dann?«

»Wir haben nur das ein oder andere Date.«

»Im Bett.«

Ich kann es nicht fassen, dass ich dieses Gespräch mit meiner Großmutter führe.

»Wer ist mein Vater?«, frage ich wieder, und wieder gibt sie keine Antwort.

Sie blättert stattdessen ein paar Seiten in dem Album weiter, bis sie den Schnappschuss gefunden hat, nach dem sie sucht, dann reicht sie mir das Buch. »Da«, sagt sie und deutet auf das Foto des jungen Pulkowski in seiner Air-Force-Uniform: groß, breitschultrig und wirklich gut aussehend. »Kannst du die Ähnlichkeit mit Ham erkennen?«

Es ärgert mich, dass es mir gelingt.

»Es heißt doch immer, die meisten Mädchen heiraten ihre Väter«, fährt Helen fort. »Und ich fürchte, das hast du auch getan. Jetzt allerdings bist du mit deinem Großvater zusammen.«

»Ma!«, sage ich und schlage das Album zu, da es mir Angst macht. »Es hat mir besser gefallen, als du noch mit mir über mein Gewicht gesprochen hast.«

»Dein Gewicht ist in Ordnung«, sagt sie und schlägt das Album wieder auf der ersten Seite auf. Ein leichter Modergeruch steigt von den Seiten auf. »Da«, sagt sie und ein Lächeln spielt um ihre Lippen. Sie schiebt mir das Buch hin.

Ich sehe ein Foto von Helen als junger Frau am Strand, mit der Art von Filmstarbeinen, die es heute nicht mehr gibt. Das Röckchen ihres Badeanzugs wird vom Wind gegen ihre schmalen Hüften gedrückt. Hinter ihr ist die Brandung. Ich sehe eine hübsche Brünette, ganz entschieden eine Miss Rheingold, die mit einem Bündel auf dem Arm in die Sonne blinzelt. Ich sehe ein Babybäckchen halbmondförmig aus dem Wickeltuch in ihrer Armbeuge lugen. Ich sehe das große Glück auf Helens hoffnungsvollem Gesicht.

»Mein Gott, wie schön du warst«, sage ich.

»Du hättest deine Mutter sehen sollen.«

Jetzt wiegt sich meine kleine Großmutter, die Kraftquelle meiner Kindheit, sachte hin und her, als wäre der steiflehnige skandinavische Stuhl, auf dem sie sitzt, in Wahrheit ein Schaukelstuhl, und als hätte sie das Baby vom Foto wieder im Arm. Sie starrt das Bild aus verschwommenen Augen an und reibt mit dem Zeigefinger über die zerfledderten Ecken des Schnappschusses.

»Ma«, sage ich. »Wer war sie?«

»Das war in Montauk«, erklärt sie mir. »Pulkowski und ich pflegten eines von diesen kleinen Puppenhäuschen entlang der alten Route 27 zu mieten.«

Ich kenne die alte Route 27 nicht. Ich war nie mit Helen und Pulkowski in Montauk. Ich wurde all die Sommer meiner Kindheit nach Sag Harbor verschickt, in ein Sommercamp, wo Disney-Filme auf weißen Laken abgespielt wurden und wo immer Sand in den Sandwiches war.

»Ist das meine Mutter, in deinen Armen?«

»Das war ihr erster Besuch am Strand«, sagt Helen. »Sie war erst sechs Wochen alt. Ich hatte Angst, dass eine Welle sie fortspülen würde.«

Eifersucht flammt irgendwo in meinem Magen auf. »Wie heißt sie?« Wieder betrachte ich den Schnappschuss, den tadellos flachen Bauch meiner Großmutter nur sechs Wochen, nachdem sie das pausbäckige Baby in ihren Armen zur Welt gebracht hatte. Wessen Kind bin ich?

Helen wiegt sich weiter. »Was für einen wunden Po sie hatte von all der Sonne und dem Sand! Pulkowski musste mit dem Studebaker den ganzen Weg bis nach Hauppauge fahren, um eine Salbe zu besorgen.« Hin und her, hin und her, hin und her. Sie ist in ein Loch gefallen, das ein halbes Jahrhundert tief ist.

»Ma«, sage ich. »Wie heißt sie? Wo ist sie? Was ist passiert?«

Helen sieht auf, als wäre sie überrascht, dass ich immer noch neben ihr am Tisch sitze. »Ach, meine kleine Dickmadam«, seufzt sie, dann füllen ihre Augen sich mit Tränen. Sie tätschelt mit ihrer eigenen, kleinen, kalten Hand die meine. »Fuhr mal mit der Eisenbahn.«

»Ihr Name, Ma.«

Ich bin freundlich zu ihr, doch jetzt spüre auch ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllen. Ich blicke von Helens trauriger Miene zurück zu dem Schnappschuss, betrachte das kleine Gesichtchen, suche nach einem Hinweis, etwas Vertrautem, Tröstlichem. Oder zumindest nach etwas Aussagekräftigerem, als meine Großmutter es mir im Moment bieten kann. Doch was kann einem ein fünfzig Jahre altes, daumennagelgroßes Gesicht schon verraten? Nichts. Eine Träne rinnt mir über die Wange. Ich wische sie weg, bevor sie auf das Album tropft.

»Alexa«, sagt Helen plötzlich. »Das war ein alter Name auf der Pulkowski-Seite.«

Wieder tätschelt Helen meine Hand.

»Wo ist sie? Was ist passiert? Lebt sie noch?«

»Eisenbahn, die krachte. Dickmadam, die lachte.«

Jetzt ist Helen untergetaucht. Sie ist zu tief drinnen in dem Loch. »Da fährt man nach Hauppauge und holt die Salbe«, sagt sie zu jemandem. »Da wäscht man ihr Haar mit einer Pflegespülung, damit es beim Kämmen nicht ziept. Man legt sich mit den Lehrern an … bereitet das Pausenbrot vor, säumt die Partykleider … man verteidigt sie, beschützt sie, erzieht sie, macht sich wahnsinnig vor Sorgen, und wofür?«

Sie sieht mich an. »Wofür?«, fragt sie noch einmal, und ihre Augen brennen vor Unverständnis. »Verbringt man etwa all die Jahre damit, so ein Mädchen großzuziehen und zu lieben, nur um sie an so einen abzugeben, so einen … Jungen? Einen groben, nichtsnutzigen Jungen?«

Das dürfte dann wohl mein Vater gewesen sein.

»Wer war er?«, frage ich.

»Ein Penner«, sagt sie.

»Ein Penner? Meine Mutter hat mit einem Penner geschlafen?«

Helen wedelt wegwerfend mit der Hand. »Er war irgend so ein Junge von ihrer Highschool. Das ist alles.«

»Und das macht ihn zu einem Penner?«

»Sie hat ihn im Schulbus kennengelernt! Er war nicht mal auf dem College.«

»Und das macht ihn zu einem Penner?«, wiederhole ich. Ich merke, wie sich etwas tief in mir bewegt, und erkenne, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben meinen Vater verteidige.

»Er wollte Zimmermann werden!«, kreischt Helen.

»Jesus war auch Zimmermann!«, kreische ich zurück und setze auf die katholische Karte, um sie zu beschämen, diese Frau, die jeden Sonntag ohne ihren Mann zur Messe geht.

»Ein Mann wie Jesus hätte aber niemals meine Tochter geschwängert!«

Ich merke, wie wir einander umkreisen und uns immer tiefer in den lange überfälligen Mutter-Tochter-Konflikt hineinsteigern. »Was ist denn so falsch an einem Zimmermann?«, zische ich. »Ich habe einen Rechtsanwalt geheiratet, und du hast ihn als Potz bezeichnet. Jetzt schlafe ich mit einem Metzger, und für dich ist er ein Prinz. Was sollte diese Tochter tun? Einen Präsidenten anschleppen, der weiß, wie man einen Braten zerlegt?«

»Sie war noch ein Kind! Sie wollte ihn heiraten!«, brüllt Helen, die aufgesprungen ist und wild gestikuliert, als wolle sie jemandem eine Verletzung zufügen. »Sechzehnjährige, die in der National Honor Society sind, heiraten doch keinen Zimmermann und kriegen Kinder!«

»Ma!«, rufe ich und springe selbst auf. »Vielleicht hat sie ihn ja geliebt! Vielleicht wollte sie ihn ja heiraten!«

Diesmal reißt Helen die Hand weit zurück, bevor sie mir eine runterhaut. »Ich wollte nicht, dass mein Baby diesen Johnny Bellusa heiratet!«, schreit sie, und Tränen strömen über ihre Wangen. »Reicht dir das? Ja?«

Ich spüre den Schmerz von dem Schlag kaum.

Johnny Bellusa.

Das also ist der Name meines Vaters. Das also ist mein Leben: Von einer Stracuzza bin ich nun plötzlich zu einer Bellusa geworden.

Ich spüre, wie Helen die Arme um mich schlingt, während ich neben dem Esstisch stehe und eine Teetasse mit Goldrand anstarre, eine weiße Papierserviette, einen Löffel. Plötzlich zucken meine Schultern.

»Sie hat das Kind im Little Flower Home für unverheiratete Mütter bekommen«, fährt sie fort, streichelt mir über den Rücken, und ihre Tränen benetzen meinen Nacken. »Eine Steißgeburt. Beinahe wäre sie dran gestorben.«

»Verkehrt herum durch den Kanal«, schluchze ich.

»Sie wollte nicht, dass wir es zur Adoption freigeben. Sie hat es nach Hause gebracht, dann ist sie verschwunden.«

Ich schmiege mich an ihre schmalen Knochen. Plötzlich wünsche ich mir, dass meine Großmutter mich mit meinem richtigen Namen anspricht. Ich will für sie Roseanna Plow sein, nicht dieses es, das von Alexa Pulkowski zurückgelassen wurde. Ich kann ein lautes Schluchzen nicht unterdrücken, und Helen Pulkowski, die einzige Mutter, die ich je hatte, streicht mir sanft über den Rücken, wie man es bei einem Säugling macht. Natürlich nur, wenn man das Kind nicht für immer weggibt.

Dann hören wir einen Schlüssel im Schloss, und Ham kommt herein. »Ich habe meinen Geldbeutel vergessen«, sagt er zu uns, und ich weiß, dass ich mir bis ans Ende meines Lebens nicht sicher sein werde, ob er das nur vortäuscht oder nicht. Er kommt zu dem Häufchen Unglück, das Helen und ich bilden, löst mich sanft aus ihren Armen und zieht mich in seine.

»Hallo, Rosie«, flüstert er in mein Haar.

Ich hänge an ihm wie an einem Rettungsboot.

Seitensprung ins Glück
Mitchell_Seitensprung ins Glueck.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-1.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-2.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-3.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-4.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-5.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-6.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-7.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-8.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-9.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-10.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-11.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-12.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-13.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-14.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-15.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-16.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-17.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-18.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-19.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-20.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-21.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-22.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-23.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-24.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-25.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-26.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-27.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-28.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-29.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-30.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-31.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-32.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-33.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-34.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-35.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-36.xhtml
Mitchell_Seitensprung ins Glueck-37.xhtml